Gay-BeziehungenMehr Spaß am
Seitensprung! Von Micha Schulze, 19.08.2006 Ein Plädoyer für die leidenschaftliche Affäre und eine eigene schwule Beziehungskultur Kürzlich heulte sich ein schwuler Freund bei mir aus, dass ihm sein Partner keinen Seitensprung erlaubt. Er selbst würde ja gerne mal etwas Abwechslung auf der Matratze haben, traut sich aber nicht. Ein heimliches Abenteuer lehnt er ab, weil er seinen Partner nicht belügen möchte. Andererseits hat er große Angst vor seiner Reaktion, würde er ihm einen Besuch in der schwulen Sauna beichten. Dabei hat auch der Gatte gerne Abwechslung, was seine Sammlung von über 300 schwulen Porno-Videos beweist. Was die sexuelle Befriedigung angeht, haben die wenigsten schwulen Männer Probleme, zu ihren Bedürfnissen und Wünschen zu stehen und sie auch in die Tat umzusetzen. Wir profitieren von unserer männlichen Sozialisation und können Sexualität als ganz normales körperliches Bedürfnis betrachten, nicht anders als Essen, Trinken oder Schlafen. Der lustvolle, freie Umgang mit Sexualität ist Teil schwuler Identität. Aus der schwulen Sexkultur hat sich kaum eine eigene Beziehungskultur entwickelt Aus der offen gelebten Sexkultur hat sich jedoch nur ansatzweise eine eigene schwule Beziehungskultur entwickelt. In schwulen Partnerschaften lassen sich sexuelle Freizügigkeit und traditionelle Normen nicht immer vereinbaren, wie das anfangs genannte Beispiel meines Freundes zeigt. Gründe dafür sind sicher mangelnde Kommunikation und Streitfähigkeit in der persönlichen Beziehung, aber auch fehlende Vorbilder spielen dabei eine Rolle. Schwule Lebens- und Beziehungsmodelle sind in der Öffentlichkeit kaum präsent, wurden von der Wissenschaft bislang kaum untersucht und werden von den Medien nur ausschnitthaft dargestellt. Die mangelnden Vorbilder liegen natürlich auch in der vergleichsweise kurzen Zeitperiode begründet, in der homosexuelle Männer überhaupt offen und weitgehend ohne Diskriminierung leben können. Leider gerieren sich selbst heute die meisten schwulen Promis am liebsten wie Alfred Biolek als asexueller Single oder verbitten sich wie Volker Beck jeden Blick in das Privatleben. Hätte der grüne Bundestagsabgeordnete auch nur ein einziges Mal offen über seinen Berliner Zweitlover gesprochen oder über die Schwierigkeit, zwei Männer gleichzeitig zu lieben, in der Szene hätte dies vielleicht ebenso große Auswirkungen gehabt wie sein Kampf um die Eingetragene Lebenspartnerschaft. Nach der so genannten Bochow-Studie von 2003, der regelmäßig von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in Auftrag gegebenen Umfrage über die schwule Presse, steht das "Fremdgehen" in jeder zweiten schwulen Beziehung auf der Tagesordnung. Die Universität im kanadischen Windsor fand sogar heraus, dass drei Viertel aller homosexuellen Männer in einer mindestens einjährigen Partnerschaft Sex außerhalb der Beziehung erleben. Je länger eine schwule Beziehung dauert, desto häufiger wird nämlich "fremdgegangen": Bei über vierjährigen Partnerschaften leben sogar drei von vier schwulen Paaren nicht monogam, sagt die Bochow-Studie. Mit der Zeit wird ein einziger Mann zu langweilig, könnte man das interpretieren. Oder auch: "Fremdgehen" ist ein Erfolgsrezept für eine lang anhaltende Beziehung, Treue dagegen kann einsam und traurig machen. >>> | Das Buch zum Thema: ''Fremdgehen'' macht glücklich! Gay-Beziehungen>>> Natürlich gibt es sehr unterschiedliche Gründe
für den schwulen Seitensprung. Das können Langeweile sein oder
unerfüllte sexuelle Wünsche, die Sehnsucht nach Romantik oder Ekstase,
aber auch krankhafte Selbstbestätigung. Doch meist ist es so banal und
nüchtern, wie es der Schriftsteller Michael Sollorz beschreibt: "Wir
haben die Erfahrung gemacht, dass die sexuellen Interessen sich kaum
für längere Zeit ausschließlich auf ein und denselben Menschen fixieren
lassen. Jeder ist frei, mit anderen zu schlafen, vorausgesetzt, er
belügt den Partner nicht und achtet beim Sex mit anderen auf die
Ansteckungsgefahr mit sexuell übertragbaren Krankheiten."
So ist dieses Plädoyer für die leidenschaftliche Affäre auch weder ein Aufruf zu mehr Sex noch eine Therapie für gescheiterte Beziehungen und schon gar kein neues Gesellschaftsmodell. Wer offen "fremdgeht", kann jedoch etwas für sich, seine Persönlichkeitsentwicklung und seine Partnerschaft tun. Wer die dazugehörigen Gefühle wie Freude, Nähe und Lust, aber auch Eifersucht, Verlustangst und Trauer zulässt und mit dem Partner austauscht, lebt besser und zufriedener und entwickelt darüber hinaus eine Intimität und Streitkultur in der Beziehung, die später einmal über ernsthafte Krisen hinweghelfen kann. Nicht zu vergessen: Dem einen oder anderen Paar bringt ein "Seitensprung" auch neuen sexuellen Kick. "Fremdgehen", "Betrügen" und "Seitensprung" sind unpassende Vokabeln aus einem sexualfeindlichen Jahrtausend Doch bis heute hat die schwule Szene für den kleinen Quickie zwischendurch keine eigene, positiv besetzte Begrifflichkeit gefunden. "Fremdgehen", "Betrügen", "Seitensprung" sind unpassende Vokabeln aus einem vergangenen, sexualfeindlichen Jahrtausend, die jedoch bis heute in unseren Köpfen wirken. "Betrügen" ist das schlimmste Wort von allen. Warum "betrüge" ich denn meinen Partner, wenn es auch andere Männer in meinem Leben gibt? Und womit "betrüge" ich ihn? Liebe und Sex trennen zu können, ist der kleinste gemeinsame Nenner schwuler Beziehungsmodelle. Viele bauen quasi auf dem "Seitensprung" auf, müssen jedoch dabei nicht stehen bleiben. Die Fähigkeit, auch weitere Wünsche und Bedürfnisse nicht auf einen einzigen Partner allein zu fixieren, gibt auch die Kraft, neue, ganz persönliche Lebensstile, Freundschaften und Familienformen zu entwickeln und auszuprobieren. Eine leidenschaftliche Affäre kann dafür der lustvolle Anfang sein. Der Text ist ein gekürzter Beitrag aus dem von Micha Schulze und Christian Scheuß herausgegeben Buch "’Fremdgehen’ macht glücklich. Neue schwule Lebens- und Liebesformen" (Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf, 320 Seiten, 9,90 €) |